Sechs Gelegenheiten, Freiheit und Demokratie zu sichern
Die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Herbst des Jahres bergen erstmals seit 1989 wieder die Gefahr, dass eine autoritäre, antidemokratische Partei in Deutschland in Regierungsverantwortung kommt. Nie war die Demokratie seit der Vereinigung stärker gefährdet als heute.
Die Stärke der Antidemokraten ist allerdings nicht erst seit heute Thema, sondern zeichnet sich seit über zwanzig Jahren ab.1 Viel Zeit also, die Demokratie gegen ihre Feinde zu rüsten, könnte man meinen. Doch nicht Schwächung sondern wachsender Einfluss der AfD ist die Realität, so dass sich allen Bemühungen zum Trotz lediglich der Misserfolg sicher feststellen lässt.
Mit Umfragewerten von um die 30 Prozent und die realistische Aussicht, in Sachsen und Thüringen zur wählerstärksten Partei zu werden, muss die Frage gestellt werden, was diesen Misserfolg verursacht hat.
Die folgende Ursachenforschung gibt einige Antworten und eine Anleitung, was getan werden muss, um die vielleicht letzten Gelegeheiten zur Rettung der Demokratie zu nutzen.
- 1. Die Demokratie wird nicht entwickelt, sondern lediglich ihre Feinde bekämpft.
- 2. Die Ursache für den Aufstieg der Rechten wird in der Vergangenheit gesucht, nicht in der Gegenwart.
- 3. Wählerpräferenzen werden infrage gestellt, aber nicht die Politik.
- 4. Verantwortung wird nicht übernommen, Konsequenzen nicht adressiert.
- 5. Im Vereinigungsprozess werden Bilanzen asymmetrisch gezogen.
- 6. Das Potential der 1989er Revolution nicht den Feinden der Demokratie überlassen.
1. Die Demokratie wird nicht entwickelt, sondern lediglich ihre Feinde bekämpft.
Im Herbst 1989 stürzte die Bevölkerung der DDR ihre autoritäre Regierung. Nach Neuwahlen der Volksvertretung im März 1990 folgte im Juli die Einführung der D-Mark, der Währung der BRD, und Anfang Oktober die Vereinigung. Nur wenig hat die Überlegenheit der westlichen Demokratie über den Staatssozialismus deutlicher vor Augen geführt als diese Serie von Ereignissen.
Ebenso deutlich wird daran allerdings auch, wie trügerisch Erfolge sein können, denn die erwiesene Überlegenheit führte auch zur Etablierung eines Narrativs der demokratischen Climax, die nicht mehr übertroffen werden kann. Dieses Narrativ führt bis heute dazu, dass die Institutionen der deutschen Demokratie nicht als elastische, vorübergehende Einrichtungen verstanden werden, sondern als statische Endprodukte einer abgeschlossenen Evolution. Diese Sichtweise fand zuletzt auch wieder lauten Wiederhall bei den Festlichkeiten zu "75 Jahre Grundgesetz", die vor allem für die Selbstvergewisserung genutzt wurde, dass alles so am besten ist, wie es "schon immer" war.
Die AfD weiß dieses Narrativ für ihre Zwecke zu nutzen, indem sie in ihr Politikangebot zum Beispiel Elemente der direkten Demokratie aufnimmt oder sich nominell auf die Erfahrungen in der Zeit zwischen Herbst 1989 und Frühling 1990 bezieht. Nicht zuletzt lautet einer ihrer bekannteren Slogans aus gutem Grund "Vollende die Wende". Unabhängig davon, wie ernst man dieses Politikangebot nehmen möchte, weist sie damit auf eine Schwäche des politischen Prozesses in Deutschland hin, die eben darin besteht, dass sich die 40 Jahre lang bewährte parlamentarische Demokratie der BRD seit der Vereinigung nicht wesentlich weiterentwickelt hat.
Dieser Stillstand ist darum um so unverständlicher als fünf Länder teilweise ohne diese Erfahrungen auskommen müssen bzw. gänzlich andere Erfahrungen haben. Im Zuge der Vereinigung wurde die Idee geboren, dass sich die eigenen Erfahrungen ignorieren und fremde Erfahrungen institutionell importieren ließen. Entsprechend wurden Kopien bestehender Institutionen westdeutscher Länder in den Osten geliefert und diese Kopien mit westdeutschem Führungspersonal bestückt, so dass auch die Erfahrungen personell mit installiert werden konnten.
Trotz aller Versuche, hat sich die parlamentarische Demokratie nach westdeutschem Vorbild im Osten jedoch nicht etablieren können. Das liegt unter anderem daran, dass die Parteien zu wenig Mitglieder haben und so ihre Aufgabe, die politisch Meinungsbildung zu unterstützen, nicht wahrnehmen können. Gleichzeitig ändern sich die Stimmenanteile der einzelnen Parteien von Wahl zu Wahl, so dass zeitlich stabile Zustimmungswerte für Parteien oder bestimmte Koalitionen selten sind.
Die Idee, dass die Kopie der demokratischen Institutionen auch eine Kopie der Traditionen und Gewohnheiten nach sich ziehen würde, ist faktisch gescheitert.
Mit Blick auf den Osten wird dieses Scheitern oft als Ausdruck einer Demokratieunfähigkeit angesehen. Der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung, Wanderwitz, sprach in diesem Zusammenhang unter anderem von einer "Diktatursozialisierung", die letztlich gleichbedeutend mit einer Ablehnung der Demokratie von "erheblichen Teilen der Bevölkerung" sei.2
Diese oder ähnliche Befunde legen dabei ein Demokratiemodell zugrunde, das selbst nicht hinterfragt wird. Demokratie als gleichberechtigte Teilhabe an der Gestaltung der eigenen Lebenswirklichkeit ist jedoch kein statischer Zustand, sondern muss ständig neu entwickelt werden, um so den Ansprüchen der Menschen und den jeweiligen Gegebenheiten Rechnung zu tragen.3 Eine dieser Gegebenheiten in Ostdeutschland ist zum Beispiel die geringe Bereitschaft, in Parteien mitzuarbeiten. Entsprechend müsste die Demokratie so gestaltet werden, dass sie nicht an dieser Neigung scheitert.
Politiker und Politikerinnen reagieren auf diesen Widerspruch jedoch nicht mit der Forderung nach Weiterentwicklung der demokratischen Institutionen, sondern mit der Forderung nach Anpassung der WählerInnenpräferenzen und des -verhaltens, was durchaus als fundamental undemokratisch verstanden werden kann.
Das Muster, die Menschen mit ihren Wünsche und ihren Ansprüche an eine idealisierte Realität anpassen zu wollen, statt die Realität nach den Wünschen der Menschen zu ändern, wiederholt sich im gesamten Vereinigungsdiskurs immer wieder. Die AfD macht sich dieses Muster zunutze, indem sie Politik zur Änderung der Realität anbietet. Da der AfD auf diesem Gebiet keine Konkurrenz erwächst, fällt es ihr leicht, ihre Angebote in Wählerstimmen umzumünzen. Die Abwesenheit von Konkurrenz führt logischer Weise auch dazu, dass nicht etwa das beste Angebot zum Zuge kommt, sondern dass des Monopolanbieters, also der AfD.
Die demokratischen Parteien weichen bisher diesem Konkurrenzkampf um die besten demokratischen Institutionen aus. Dieses Ausweichen findet seinen Ausdruck auch in inzwischen ritualisierten Diskussionen, wie zum Beispiel der über die Verfassungsfrage, insbesondere Artikel 146 Grundgesetz. Dieser Artikel verlangt eine Abstimmung über eine gesamtdeutsche Verfassung zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung. Bekanntlich wurde die Vereinigung jedoch als Beitritt nach Artikel 23 vollzogen. Das Ritual des öffentlichen Diskurses besteht seit 1990 darin, den Artikel 23 als den "Königsweg" ohne Alternative zu bezeichnen und so eine Debatte über dessen Nachteile oder konkurrierende Alternativen gar nicht erst zu führen. Zuletzt bot der 75. Jahrestag des Grundgesetzes wieder Gelegenheit, dieses Ritual zu beobachten.4
Interessanter Weise kann die Friedliche Revolution als solche auch als ein Konkurrenzprojekt verstanden werden, denn der Sturz der DDR-Regierung sowie die Beseitigung ihres Repressionsapparates war für sich genommen bereits ein Akt der Demokratie und produzierte in der Folge Anfänge demokratischer Institutionen, wie den Runden Tisch und die erste wirklich freie und geheime Wahl zur Volkskammer.
Politiker aber auch andere öffentliche Personen stellen inzwischen den befreienden, demokratisierenden Akt der friedlichen Revolution selbst jedoch in Frage. Zum Beispiel behauptet Mario Voigt, Spitzenkandidat der Thüringer CDU, in einem Tweet auf der Plattform X.com am 24.6.2024, er habe seine persönliche Freiheit der Einheit zu verdanken. Kurz zuvor veröffentlichte die Zeitung "Die Freie Presse" ein Interview, in dem die Behauptung aufgestellt wurde, die Ostdeutschen seien "ohne ihr Zutun" in einem freien Land "aufgewacht". Voigt ignoriert dabei offensichtlich, dass seine Freiheit durch den Sturz der SED-Herrschaft, die Auflösung des Geheimdienstes, Öffnung der Grenzen, Ermöglichung freier Wahlen usw. hergestellt wurde und die Einigung ohne diese Befreiung gar nicht denkbar gewesen wäre. Aus demselben Grund ist die Behauptung unsinnig, die Ostdeutschen hätten zur Einheit nichts beigetragen.
Diese Verneinung der demokratischen Selbstermächtigung bis hin zur Umkehrung der Kausalität von Friedlicher Revolution und Einheit kann auch gedeutet werden als Vermeidung eines Konkurrenzkampfs um die besten demokratischen Strukturen. Allerdings ist diese Taktik sehr riskant, denn sie versucht, die Fakten der Vergangenheit zu ändern. Zwischen der Leugnung von Fakten und blanken Lügen steht nur eine sehr dünne Wand und der Glaubwürdigkeit von Politik ist beides nicht zuträglich. Wenn aber Demokraten Fakten leugnen oder lügen, machen sie sich ununterscheidbar von den Feinden der Demokratie.
Der vielleicht größte Fehler dieses Nicht-Wettkampfes ist jedoch, dass die Verteidiger der Demokratie eine wichtige Waffe gar nicht erst in Hand nehmen, nämlich den Nachweis, dass sie die besseren Lösungen haben. Diesen Beweis können sie natürlich nicht führen, wenn sie erst gar keine Lösung vorschlagen. Statt eines Politikangebots, passender demokratischer Institutionen, wird von den Wählerinnen und Wählern verlangt, zugunsten westdeutscher Traditionen auf eigene Ansprüche an den politischen Prozess zu verzichten.
Unter den optimistischen Vorzeichen der wiedergewonnenen Einheit mag diese Verzichtserwartung kurzfristig gerechtfertigt gewesen sein, denn schließlich war die DDR doch der BRD "beigetreten", hatte also die westdeutsch tradierten Institutionen akzeptiert und übernommen. Mittelfristig und gewiss nach drei Jahrzehnten ist dieser Verzicht jedoch nicht mehr begründbar.
Bedauerlicher Weise verweigern sich die Parteien des demokratischen Spektrums der Diskussion über die Weiterentwicklung der Demokratie. Mehr noch, statt die demokratische Tradition des Ostens, die 1989 so verheißungsvoll begann, zu pflegen, wurde das singuläre Ereignis der Friedlichen Revolution deutscher Geschichte bis heute nicht in die gemeinsame Erinnerungskultur aufgenommen. Folglich ist es auch nicht möglich, an diesen einzigartigen Erfolg der Selbstbefreiung von einer Diktatur anzuknüpfen und diese als Ausgangsunkt für die Pflege und Weiterentwicklung der Demokratie nutzbar zu machen. Den Nutzen aus dieser Auslassung zieht derweil die AfD, die sich anmaßt, das "verwaiste Kind" Friedliche Revolution adoptiert zu haben. Ein größerer Missbrauch der Geschichte ist kaum denkbar.
Der Aufstieg der AfD währt inzwischen zwei Jahrzehnte. Ebenso lange wird dieser Aufstieg beklagt und ebenso lange wird versucht, diesen Aufstieg durch Apelle an die "richtigen" Präferenzen zu verhindern. Der Wunsch, der Wähler möge sich an die unveränderlichen Realitäten anpassen, hat zwanzig Jahre lang nicht gewirkt, dennoch glauben viele weiterhin daran, dass genau dieses Wunsch-Denken beim nächsten oder übernächsten Mal den Durchbruch bringen wird. Wird es nicht.
Die demokratischen Parteien sollten darum die Lösung des Problems nicht in erster Linie in der Belehrung oder gar Beschimpfung der Wählerschaft suchen, sondern in ihrer eigenen mangelhaften Bereitschaft, die Demokratie im Osten weiterzuentwickeln und auf die Bedürfnisse und Bedingungen im Osten einzugehen.
Eine Lösung könnten neue demokratische Teilhabemodelle sein. Dazu könnten etwa Gesetzesreferenden und Zweitpräferenzen (konditionale Stimmenvergabe falls Erstwunsch scheitert) bei Wahlen und Abstimmungen zählen, etc. Der Kreativität sind im demokratischen Wettstreit keine Grenzen gesetzt, sofern er stattfindet.
Eine Politik der aktiven Weiterentwicklung der Demokratie aufbauend auf den spezifischen ostdeutschen Traditionen und Verhältnissen böte den demokratischen Parteien zugleich die Gelegenheit, sich aus der strategischen Abwehrposition zu befreien, in die sie sich mit dem Ziel der WählerInnenerziehung manövriert haben. Aus dieser Position heraus erscheint die Verteidigung der Demokratie durch Rechtfertigung und permanente Bekämpfung ihrer Feinde die einzige Option zu sein. Durch die Weiterentwicklung der demokratischen Institutionen stünde hingegen eine Politikangebot zur Verfügung, das auf Erfolg durch Kreativität und Übernahme der Meinungsführerschaft setzt.
2. Die Ursache für den Aufstieg der Rechten wird in der Vergangenheit gesucht, nicht in der Gegenwart.
Die "Allianz für Deutschland" gewann die DDR-Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit 48 Prozent der Wählerstimmen (davon CDU: 41%) und erhielt mehr als die Hälfte aller Parlamentssitze. Zur selben Zeit regierte in der BRD eine Koalition aus CDU und FDP, die bei der Bundestagswahl 1987 über 53 Prozent der Stimmen auf sich vereinte. Im Dezember betrug die Zustimmung zur CDU, der Nachfolgerin der "Allianz", in Ostdeutschland weiterhin 41 Prozent. Seinerzeit wurden beide Wahlen als Triumph der Demokratie gefeiert. Niemand kam dabei auf die Idee, diese Resultate als Ergebnis einer "Diktatursozialisierung" der Wählerschaft zu denunzieren oder Ausdruck der Unreife der Wählenden hinzustellen.
Mehr als zwanzig Jahre später hat sich das Blatt gewendet. Wahlentscheidungen im Osten werden als Ausgeburt der Nachwirkungen von Diktatur und Unterdrückung gedeutet und gipfeln in der Diagnose, Ostdeutsche seien strukturell demokratieunfähig.
Warum bei dieser Betrachtung die Jahre seit der Vereinigung als Einflussfaktor ausgeblendet werden, kann hier dahingestellt bleiben, interessant ist vor allem das Argumentationsmuster und sein Auslöser. Der Auslöser ist eine sichtbare Divergenz der Präferenzen in Ost- und Westdeutschland. Solche Unterschiede werden seit 1990 nicht nur festgestellt, sondern bewertet, nämlich als zu korrigierende Abweichung des Ostens von der westdeutschen Norm. Dieser Bewertung folgt dann das Argument, diese Abweichung sei verursacht durch den Einfluss der DDR-Jahre auf die Bevölkerung. Da in der Zwischenzeit ein großer Teil der Menschen mit relevanter DDR-Erfahrung verstorben ist, konstruieren die Verfechter des Arguments eine "Erbschuld", d.h. die Übertragung des DDR-Erlebens auf die Nachkommen.
Das perfide an diesem Argument ist die Postulation einer Ursache, die außerhalb des menschlichen Einflusses ist, da die Vergangenheit nicht geändert werden kann. Damit werden Ostdeutsche zu hilflosen Gefangenen der DDR gemacht, die überhaupt nicht die Kompetenz besitzen können, ihre Entscheidungen sach- und zeitgemäß zu steuern.5 Zugleich verunmöglicht dieses Muster die Diskussion über aktuelle Ursachen und Einflüsse auf Entscheidungen und Präferenzen, da ja die unabänderliche Vergangenheit als Verursacher bereits feststeht.
Folglich erübrigen sich auch die Rücksichtnahme auf ostdeutsche "Befindlichkeiten" und Wünsche und jede politische Handlung ist von vornherein entschuldigt. Die Argumentation "die Vergangenheit ist Schuld" ist somit eine bequeme Selbstabsolution bereits vor der Sünde.
Wählerinnen und Wähler auf ihre Vergangenheit zu reduzieren ist eine Sackgasse. Gleichzeitig erwarten Wählerinnen und Wähler, dass ihre tatsächlich vorhandenen Erfahrungen und Prägungen respektiert und akzeptiert werden. Diese sind mit jedem Tag mehr durch die Zeit seit der Vereinigung als durch die Zeit davor geprägt. Für eine freiheitliche und demokratische Politik bedeutet das daher, das Argumentationsmuster "die Vergangenheit ist Schuld" zu durchbrechen und den Fokus auf die Gestaltung der Zukunft zu legen. Weichen Ideale in Ost- und Westdeutschland voneinander ab, ergibt es keinen Sinn, die "ostdeutschen" Ideale durch Umerziehung den westdeutschen angleichen, oder durch Verweis auf die Vergangenheit entwerten zu wollen.
Was das für die praktische Politik konkret bedeuten könnte, lässt sich am Beispiel Baden-Württembergs ablesen. Dort erzielte die AfD bei den Landtagswahlen 2016 15.1 Prozent der Stimmen. Zwei Jahre zuvor erreichte sie in Brandenburg lediglich 12.2 Prozent, in Thüringen 10.6 und in Sachsen-Anhalt 9.7 Prozent. Die Resultate im Osten lösten hitzige Diskussionen über die Bedrohung der Demokratie nach dem Muster "Die Vergangenheit ist Schuld" aus6. Im westlichen Baden-Württemberg, wo die AfD zunächst deutlich höhere Zustimmung bekam, war davon keine Rede. Weder wurde aus dem Ergebnis ein strukturelles Demokratiedefizit abgeleitet, noch wurden die Ursachen in irgendeiner Vergangenheit verortet. Stattdessen wurde die AfD im "normalen" politischen Wettbewerb gestellt und bei der nächsten Wahl sank ihre Zustimmung auf 9.7 Prozent. In Brandenburg, Thüringen und Sachsen-Anhalt legte sie hingegen weiter zu auf jeweils über 20 Prozent.
Das scheinbar offensichtliche, in Tat und Wahrheit jedoch vor allem bequeme Argumentationsmuster "Die Vergangenheit ist Schuld" stellt eine potentiell fatale Selbstzensur des Denkens dar. Es verstellt den Blick für die relevanten Kausalitäten der Gegenwart und blockiert eine zukunftsorientierte, an den Menschen ausgerichtete Politik. Die unproduktive Fixierung auf eine nicht veränderbare Vergangenheit mit all ihren Pauschalisierungen, Diskreditierungen, Verharmlosungen muss abgelöst werden durch in die Zukunft gerichtete Politikangebote, die auf die konkreten Erfahrungen aber mehr noch auf die konkreten Erwartungen der Menschen bauen.
3. Wählerpräferenzen werden infrage gestellt, aber nicht die Politik.
Als am ersten Juli 1990 der damalige Bundeskanzler der BRD die Zukunft Ostdeutschlands mit der Metapher "Blühende Landschaften" versah, spiegelte das nicht nur Erwartungen wider, die der "Allianz für Deutschland" mit zum Wahlsieg im März verholfen hatten, sondern verstärkte diese. Bekanntlich wurden diese Erwartungen trotz aller positiven Entwicklungen enttäuscht. Namentlich die hohe Abwanderung sowie die Einkommens- und Vermögensentwicklung, die Eigentumsverteilung und das inzwischen unbestrittene Elitendefizit werden die wirtschaftliche und politische Entwicklung in Ostdeutschland sehr langfristig negativ beeinflussen.
Für die Differenz zwischen Erwartungen und Ergebnis gibt es zwei wichtige Erklärungen und drei typische Reaktionen. Eine Erklärung lautet, dass es Fehler bei der Vereinigungspolitik gab, die andere, dass die Erwartungen zu hoch waren. Die typischen Reaktionen sind die Betonung der Fehler (vor allem durch "den Osten"), die Betonung der überhöhten Erwartungen (vor allem im Westen) und schließlich, die Leugnung der Differenz als Wahrnehmungsproblem (ebenfalls vor allem durch "den Westen").
Von Interesse sei hier vor allem die dritte Reaktion, denn diese deutet auf ein sehr problematisches aber häufig zu beobachtendes Muster hin. Die dritte Reaktion besagt, dass die blühenden Landschaften bereits Realität seien und weitere Ansprüche an Wohlstand und Angleichung an die Lebensverhältnisse West nicht gerechtfertigt sind. Gerne wird dieses Argument mit Vorher-nachher-Bildern von Gebäuden und Infrastruktur illustriert. Im Kern geht es allerdings darum, die Ansprüche und Wünsche der Menschen durch suggestive, moralische Wertungen zu manipulieren.
Gelingt diese Manipulation, so verkleinert sich selbstredend die Differenz zwischen (ursprünglichem) Anspruch und Wirklichkeit auf eine sehr kostengünstige Weise. Denn an die Stelle, eine Politik zu betreiben, die die Wirklichkeit an die Ansprüche anpassen würde und die bereits in ihrer Ideenfindungsphase sehr aufwändig ist, tritt der kostengünstigere, moralische Appell.
Das Muster wiederholt sich bei vielen wichtigen, unerwünschten Phänomenen, die sich entgegen den ursprünglichen Erwartungen im Laufe des Vereinigungsprozesses als äusserst hartnäckig erwiesen haben: Abwanderung, Elitendefizit, Einkommens- und Vermögensentwicklung, Arbeitslosigkeit. Dieses Muster besteht darin, auf das Erwähnen von Defiziten mit dem Hinweis zu reagieren, dass wegen der Transfers von West nach Ost die Autobahnen in gutem Zustand sind, die Innenstädte saniert, Krankenhäuser modernisiert sind, die Umweltverschmutzung reduziert wurde usw. Es wird also verwiesen auf objektive Verbesserungen und dabei gerne auch auf die Unterstützung Westdeutschlands verwiesen, dank der diese Verbesserungen erzielt werden konnten.
Durch diese Argumentation werden nicht mehr die bestehenden Differenzen diskutiert, sondern zum einen die Berechtigung, bzw. objektive Relevanz dieser Forderungen negiert und zum anderen mit der Forderung nach Dankbarkeit für die geleistete Hilfe die Differenz zwischen Erwartung und Realität gleich ganz ignoriert. Gerade die Einforderung von Dankbarkeit kommt dabei zudem dem Versuch gleich, eine Hierarchie zwischen den Diskurspartnern zu etablieren. Diese Hierarchie ist selbstverständlich nicht vereinbar mit dem Konzept einer staatlichen Einheit und der gleichberechtigten demokratischen Teilhabe. Überspitzt formuliert ist die Einforderung von Dankbarkeit die westdeutsche Spielart der Ablehnung der Demokratie in bzw. für Ostdeutschland.
In einer Demokratie muss der Wille der Wähler systematisch in praktische Politik umgesetzt werden. Parteien sollen an dieser Willensbildung mitwirken, das bedeutet jedoch nicht, den Willen der Wähler bestimmen zu wollen und in dem Moment zu ignorieren, in dem sich zeigt, dass der gewünschte Wille vom tatsächlichen Willen abweicht. Genau das ist jedoch das Muster nachdem mit Ostdeutschland immer noch oft verfahren wird.
Klage eines AfD-Wählers.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung vom 15. Juli 2024.
Demokratische Parteien müssen darum dieses undemokratische Muster durchbrechen. Das bedeutet, die bestehenden Differenzen anzuerkennen und die Unfähigkeit bzw. Unmöglichkeit der Überwindung dieser Differenzen zu thematisieren. Absolut inakzeptabel ist aber moralische Erpressung, zum Beispiel durch Verweis auf Transferleistungen, mit dem Ziel, die nicht erfüllten Erwartungen zu diskreditieren und damit Wählerpräferenzen statt die eigene Politik in Frage zu stellen.
4. Verantwortung wird nicht übernommen, Konsequenzen nicht adressiert.
Die Frage der Verantwortung dafür, dass die Erwartungen nicht erfüllt wurden und nicht erfüllt werden, ist einerseits wichtig, um Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, kann aber auch leicht in unproduktive Auseinandersetzungen über eine nicht mehr zu ändernde Vergangenheit oder in wechselseitige Fehleraufrechnung münden. Der richtige Umgang mit Verantwortung besteht darin, diese anzuerkennen und tätig zu übernehmen.
Die Übernahme der Verantwortung muss also begleitet werden von Maßnahmen und darf sich nicht in der bloßen Anerkennung, dass Fehler gemacht wurden, erschöpfen. Die Wahl der richtigen Maßnahmen ist aus zwei Gründen sehr schwierig. Einerseits ist die Suche sehr aufwändig und von unbestimmten Erfolg und zum anderen wird sie häufig zum Sucher selbst zurückführen.
Der hohe Aufwand wurde zum Beispiel anschaulich als die Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit" mit der Suche betraut wurde. Eine 22-köpfige Kommission tagte über ein Jahr unter Hinzuziehung externer Expertinnen und Experten und verabschiedete eine Reihe von Handlungsempfehlungen von denen die wichtigste und prominenteste, ein "Zukunftszentrum", bereits Teil des Auftrags war. Im Übrigen blieb trotz des Aufwandes der Innovationsgrad der Empfehlungen überschaubar.
Gute Ideen lassen sich selbstverständlich nicht erzwingen, was die Bedeutung des zweiten Grundes unterstreicht. Die Verantwortung für das Fortbestehen der Differenzen liegt auch bei den Personen bzw. politischen Organisationen, die die Politik seit der Vereinigung bestimmten. In dieser Zeit wurden Fehler begangen, die inzwischen unbestritten anerkannt sind. So spricht die oben erwähnte Kommission von "Selbstverpflichtungen" für Bundes- und Landesregierungen zur Beseitigung des Elitendefizits. Im Umkehrschluss bedeutet das zurecht, dass diese Regierungen das Entstehen des Elitendefizits verursacht haben.
Entsprechend hieße Verantwortung übernehmen, die eigene Unfähigkeit anzuerkennen, die Probleme der Einheit zu lösen. Tätige Übernahme von Verantwortung hieße in diesem Fall, beiseite zu treten und anderen Personen mit anderen Ideen die Lösung der Vereinigungsdefizite zu überlassen. Im Minimum sollte eine echte Pluralität bei Anhörung von Beratern und Experten geübt werden. Letzteres bedeutet zum Beispiel, aktiv jene einzubeziehen, die frühzeitig auf heute breit anerkannte Fehlentscheidungen im Vereinigungsprozess hingewiesen und damit ein wirklich vertieftes Verständnis der Einheitsprobleme gezeigt haben.
Frühe Hinweise gab es etwa bezüglich des notwendigen Erhalts industrieller Kerne, Aufbau von (neuen) ökonomischen Netzwerken, adverse Effekte von "Rückgabe vor Entschädigung" und Transferzahlungen7, Elitendefizit oder die blinde, minutiöse Übernahme westdeutscher Institutionen ohne Rücksicht auf lokale bzw. regionale Bedingungen. Verantwortung übernehmen besteht darin, diese offensichtlich unzureichend beachteten Stimmen stärker wahrzunehmen und die bisherige Expertenwahl (selbst)kritisch zu hinterfragen.
Eine Möglichkeit, die Erfolge von AfD und BSW zu verstehen, besteht darin, diese als Wunsch nach Übernahme von Verantwortung und Konsequenzen zu interpretieren. Demokratische Parteien wären gut beraten, diesem Wunsch selbst, d.h. demokratisch nachzukommen, denn andernfalls droht als ultimative Konsequenz der Verlust der Demokratie selbst.
5. Im Vereinigungsprozess werden Bilanzen asymmetrisch gezogen.
Nach dem Beitritt der DDR lagen vor Deutschland die Mühen der Ebene. Diese Mühen waren begleitet von Erfolgen, Fehlern, Opfern und Gewinnen und Gewinnern. Von den Erfolgen profitierten sehr viele und sehr viele leisteten wichtige Beiträge. Eine nützliche Bilanz des gesamten Prozesses würde alle diese Faktoren in Betracht ziehen, um den Menschen gerecht zu werden.
Eine solche symmetrische Bilanz wird jedoch sehr oft aus kurzsichtigen politischen Gründen nicht gezogen. Beispielsweise wird oft an das Wirken der Treuhand erinnert. Je nach politischer Seitenwahl und Himmelsrichtung fällt diese Erinnerung jedoch so unterschiedlich aus, dass eine außenstehende Person den Eindruck haben muss, es handelt sich bei "der Treuhand" um mehr als zehn unterschiedliche Einrichtungen.
Beispielsweise wird gerne ins Feld geführt, das von der Treuhandanstalt hinterlassene Defizit von 260 Milliarden D-Mark seien Kosten der Einheit, die von Ostdeutschland verursacht wurden. Die Benennung dieses Defizits ist jedoch nicht aussagekräftig, wenn nicht auch die Wirkungen der Treuhandarbeit berücksichtigt werden.
Zu diesen Wirkungen zählen auch die Herstellung einer Eigentümerstruktur, bei der Vermögenswerte (Betriebsvermögen und Immobilien) in Ostdeutschland stark überproportional im Eigentum von westdeutschen Personen ist und die "Kosten" auch als Subventionen für die Vermögensübertragung verstanden werden können. Von diesen Subventionen haben zudem nicht alle Westdeutschen gleichermaßen profitiert, sondern nur eine kleine Minderheit.
Die Hinweise auf diese doppelte Verteilungswirkung wird bei der Nennung des hinterlassenen Defizits of unterlassen. Im umgekehrten Fall der Benennung der Opfer, die der Osten gebracht hat in Form von Arbeitslosigkeit, Elitendefizit, Abwanderung usw., muss hingegen auf den Verweis auf den "Soli", reparierte Häuserfassaden, Transferzahlungen und ähnliches nicht lange gewartet werden.
Diese Form der asymmetrischen Bilanzierung untergräbt die Glaubwürdigkeit der öffentlichen Diskussion, denn sie zielt systematisch auf die Relativierung der ostdeutschen Opfer und Beiträge an die Einheit bei gleichzeitiger Überhöhung der westdeutschen Leistungen während die durchaus auch handfesten Vorteile für Westdeutschland (Stabilisierung Rentenkasse, Konjunkturimpulse, Netzwerkbildung, Ausgleich der demografischen Defizite) und deren ungleiche Verteilung fast nie erwähnt werden.
Unglaubwürdigkeit ist immer eine Bedrohung für die Demokratie. Das Ritual der asymmetrischen Bilanzierung als Waffe und Währung in Abrechnugnen mit dem politischen Gegner und den Wählern zu missbrauchen, muss enden.
Eine symmetrische Bilanz des Vereinigungsprozesses hat schmerzhafte und unangenehme Aspekte. Diese zu verschweigen, heißt der Demokratie weiteren Schaden zuzufügen. Folglich ist es notwendig, Lasten und Erfolge der Vereinigung vollständig zu benennen, auch wenn das wehtut oder politische und personelle Konsequenzen erfordern sollte.
6. Das Potential der 1989er Revolution nicht den Feinden der Demokratie überlassen.
Wenn Sarah Wagenknecht fordert, die Ukraine solle Verhandlungen mit Russland zur Beendigung des Krieges aufnehmen, sind zwei Dinge gewiss. Zum einen macht sie sich zur Stimme tausender Menschen, die ähnlich denken. Zum anderen zieht sie den geballten Widerspruch der öffentlichen Meinung auf sich, der in der Regel gespickt ist mit Ressentiments gegen Ostdeutsche: Sind es nicht die 40 Jahre erzwungene "Völkerfreundschaft", die die "russophile Verirrung" hervorruft?
Wagenknecht weiß, dass die Wirkung der öffentlichen Ressentiments die Wirkung ihrer inhaltlichen Äußerung um ein Vielfaches übertrifft. Sie erhält durch die Anklage des ostdeutschen "Kollektivs" Zuspruch und Unterstützung weit über die Unterstützer von Verhandlungen hinaus, da sie sich indirekt als Repräsentantin eines ostdeutschen Selbstbewusstseins anbietet.
Mit dieser Taktik kehrt Wagenknecht - die AfD wendet sie faktisch identisch an - eine seit der Einheit häufige Übung gegen ihre Erfinder. Wie bereits oben gesehen, werden politische Präferenzen in Ostdeutschland häufig relativiert oder klassifiziert als Ergebnisse von Diktatur und Indoktrination.
DDR-Vergangenheit als denunziatorische Waffe: C. Behrends (Universität Viadrina) über die Fernsehmoderatorin Maybrit Illner.
Quelle: x.com.
Lange Zeit resultierte daraus eine für alle außer die Betroffenen bequeme, konformistische Haltung des Unsichtbarmachens, um nicht als ostdeutsch erkannt und stigmatisiert zu werden. Die Unsichtbarkeit erlaubte dann, ostdeutsche Präferenzen geräuschlos zu ignorieren.
BSW und AfD bieten als Alternative zum Konformismus, ein "neues" Selbstbewusstsein an. Dieses neue Selbstbewusstsein wird insbesondere von der AfD allerdings gepaart mit und gespeist aus nationalistischen, rassistischen und antidemokratischen Inhalten.
Bislang setzten demokratische Politiker diesem neuen Selbstbewusstsein Unverständnis, Ablehnung entgegen oder übernahmen die nationalistischen und fremdenfeindlichen Inhalte, um die Wähler zurückzugewinnen. Gerade letzteres würde letztlich in der Abschaffung der Demokratie durch (vermeintliche) Demokraten münden.
Die naheliegende Alternative besteht darin, das neue Selbstbewusstsein mit demokratischen Inhalten zu füllen und dabei auf die Erfahrungen von Stärke und Selbstermächtigung zu setzen. Nichts bietet sich dafür besser an als die Friedliche Revolution von 1989.
Bereits heute wird die Friedliche Revolution gewürdigt, doch ist diese Würdigung faktisch immer mit einer Relativierung sowie Verwischung ihrer kausalen Bedeutung verbunden. Beispielsweise wird die Friedliche Revolution mit der deutschen Einheit auf eine Stufe gestellt, ohne die Friedliche Revolution als Ursache und damit Voraussetzung für die Einheit zu erwähnen. Damit wird der herausragende Unterschied zwischen den beiden ansonsten gleichwertigen Ereignissen ignoriert und die Friedliche Revolution abgewertet.
Ein Beispiel für diese Abwertung durch Gleichmachung ist die bereits oben erwähnte Kommission "30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit". Konsequenter Weise waren die offiziellen Feierlichkeiten zum 30jährigen Jubiläum der deutschen Einheit um einiges aufwändiger als die ein Jahr zuvor zu Ehren der Friedlichen Revolution.
Man mag einwenden, dass die Friedliche Revolution nur in Ostdeutschland und nur mit Ostdeutschen stattfand, und folglich im Westen - und damit für die übergroße Mehrheit der Bevölkerung - weniger Relevanz hat, weshalb ein geringerer Aufwand gerechtfertigt wäre. Doch gerade dieses Argument beweist die ungerechtfertigte Relativierung, denn die Einheit ist kausal abhängig von der Friedlichen Revolution. Folglich ist die Friedliche Revolution von höchster, nicht hoher, Relevanz für Ost und West.
Jenseits der Kausalität steht die Friedliche Revolution jedoch auch in anderer Hinsicht in der deutschen Geschichte einzigartig da. Zu dieser Einzigartigkeit gehört der Sturz einer Diktatur mit friedlichen Mitteln und der Übergang zur Demokratie aus eigenem Antrieb, also ohne den äußeren Anlass eines Krieges.
Die Kausalität für die Einheit und die historische Einzigartigkeit sind Grund genug, die Friedliche Revolution als konstituierend für das moderne Deutschland und damit identitätsstiftend für den modernen, demokratischen Staat Bundesrepublik Deutschland zu werten. Durch diese Neubewertung erwüchse auch die Möglichkeit, die Friedliche Revolution für die Sicherung und Stärkung der Demokratie zu nutzen.
Eine solche Nutzbarmachung würde zum Beispiel die Geschichte der Friedlichen Revolution gemeinsam mit den Akten des Widerstands in der DDR-Diktatur in den Mittelpunkt der Erinnerungskultur gestellt. Derzeit findet auf vielen Ebenen eine intensive Beschäftigung mit der DDR-Geschichte statt. Bund und Länder haben dieses Gedenken stark institutionalisiert durch Museen und Forschungsinstitutionen. Das Thema dieser institutionalisierten Erinnerungen ist jedoch vor allem die DDR-Diktatur selbst, die Mechanismen und Konsequenzen der Diktatur.
Damit investiert der demokratische Staat nicht nur in das notwendige Gedenken der Opfer und abschreckende Mahnung an die nachfolgenden Generationen, sondern vermittelt auch das Know-How einer Diktatur. Überspitzt gesagt müht sich der Staat, das Wissen, wie eine Diktatur betrieben wird, minutiös weiterzugeben und verfügbar zu halten, doch wie eine Diktatur überwunden werden kann, spielt eine Nebenrolle.
"Ich wünsche mir, dass es nicht einfach zur Selbst-Legitimierung unserer Gesellschaft dient: Wir führen vor, wie entsetzlich dieser Kommunismus war und wie gut wir doch sind. Also diesen Effekt, den bitte ich als Gefahr im Auge zu behalten, sondern eher zu fragen selbstkritisch: Wo ist heute ein persönliches politisches Engagement nötig? Das müsste eigentlich die Frage sein [...]"8
Diese Gewichtung muss geändert werden. Der Anfang wäre gemacht, wenn die Friedliche Revolution zu einem gesamtdeutschen Erinnerungsobjekt erhoben würde, das mindestens auf die gleiche Stufe wie die Erinnerung an die Vereinigung 1990 gestellt wird. Gleichzeitig darf sie mit der Vereinigung nicht in eins gesetzt werden, da das die kausale Hierarche ignorieren und die Friedliche Revolution so als Ausgangspunkt einer Tradierung der demokratischen Entwicklung weitgehend unbrauchbar würde.
Als würdiges Gedenkdatum für die Friedliche Revolution böten sich der Rücktritt Honeckers (17.10.), erste Großdemo in Leipzig (16.10.) bzw. Berlin (04.11.) oder die Stürmung der Zentrale der Staatssicherheit (15.01.) an. Die Errichtung eines eigenen Instituts für die Erforschung der Friedlichen Revolution und Demokratieentwicklung könnte die Einzigartigkeit der Friedlichen Revolution systematisch tradieren. Das in Halle geplante "Zukunftszentrum" kann diese Rolle übrigens nicht ausfüllen, da dort eine Vermischung ganz vieler historischer Entwicklungen vorgesehen ist, was dem singulären Charakter und dem Potential der Friedlichen Revolution für die Demokratisierung in Ostdeutschland nicht gerecht werden wird.
Diese angemessene Erinnerung an die Überwindung der Diktatur wird unweigerlich darauf hinweisen, welch wichtige Rolle individuelles sowie gemeinsames bürgerschaftliches Engagement spielten. Sie wird aufzeigen, wie Kreativität und mutige Einmischung mit Stimme und Tat die Friedliche Revolution zum Erfolg führten.
Mangelnde Einmischung in politische Prozesse und aktives Engagement werden Ostdeutschland immer wieder gerne bescheinigt. Stattdessen herrschten Passivität, Staatsgläubigkeit und unproduktive Protestkultur, wie sie inzwischen von der AfD dominiert wird. Die Friedliche Revolution beweist dagegen, dass Passivität und Staatsgläubigkeit keineswegs natürliche, unveränderliche ostdeutsche Konstanten sind. Folglich ist es unter den richtigen Umständen und mit den richtigen Mitteln möglich, die kreative und engagierte Seite zu wecken.
"Für mich daraus das Wichtige ist, dass Zivilcourage und sozusagen die Angst überwinden in so einem System, auch die Angst vor der vor den Sanktionen, wenn ich mich nicht anpasse, dass das eine Grundlage ist, damit überhaupt ein demokratisches Gemeinwesen funktionieren kann."9
Eine neue, potentialorientierte Erinnerungskultur mit der identitätsstiftenden und staatskonstituierenden Friedlichen Revolution im Zentrum bietet diese Umstände und Mittel. Sie setzt bei den kreativen Lösungen zur Überwindung der Diktatur und Errichtung der Demokratie an und muss darüber hinaus Freiraum zulassen für spezifisch ostdeutsche demokratische Traditionen und Institutionen.
Die Erinnerung an die Überwindung der Diktatur wird zugleich den Raum für absurde DDR-Nostalgie eingrenzen, denn sie ruft permanent den Akt der Beendigung der DDR-Diktatur ins Gedächtnis. Die bisherige Tradition, die Geschichte der DDR als Betriebshandbuch für eine Diktatur zu pflegen kann das nicht leisten, da sie keine kognitive Dissonanz zwischen der historischen Aktion (Diktatur beseitigen) und der aktuellen Aktion (Diktatur romantisieren) hervorzurufen vermag.
Die Friedliche Revolution hat jedoch die DDR-Diktatur beseitigt und die Gründe dafür, der Wunsch nach demokratischer Selbstbestimmung, haben sich nicht geändert. Es ist daher imperativ, diesen Zusammenhang nutzbar zu machen.
Eine sehr gute Gelegenheit für den Paradigmenwechsel in der Erinnerungskultur bietet das 35jährige Jubiläum der Friedlichen Revolution. Die demokratischen Parteien können bei diesem Anlass beweisen, dass sie die identitätsstiftende und staatskonstituierende Dimension dieses Prozesses begriffen haben. Sie sollten in jedem Fall damit beginnen, sich die Friedliche Revolution als die wichtigste Wegmarke des demokratischen Deutschlands zu eigen zu machen, sofort, unverzüglich.
Ausblick
Die deutsche Geschichte seit der Einheit ist gespickt mit verpassten Gelegenheiten. Der Preis dafür steigt seit vielen Jahren mit jeder Wahl. Die antidemokratischen Kräfte haben inzwischen eine Stärke erreicht, die die Demokratie selbst beschädigt und in ihrer Substanz bedroht.
Die Demokratie muss verteidigt werden. Das geht am besten, indem sie gepflegt und angewendet wird. In Ostdeutschland mangelt es insbesondere an der Anwendung. Die Ursache dafür liegt vor allem in der mangelnden Pflegebereitschaft der demokratischen Kräfte, die nicht in der Lage sind, die Demokratie so weiterzuentwickeln, dass sie lebensfähig bleibt. Diese Unfähigkeit zeigt sich vor allem an ihrer mangelnden Änderungsbereitschaft, ihre Unfähigkeit, Vorurteile abzubauen, andere Perspektiven einzunehmen oder schlicht, fähigeren Personen und Ideen Platz Vorfahrt zu gewähren.
Die Gelegenheiten, die Demokratie zu retten werden immer knapper. Die vorgeschlagenen sechs Maßnahmen sind Gelegenheiten, die die demokratischen Kräfte ergreifen sollten, bevor es zu spät ist.
AfD-Wahlergebnisse (14 Juli 2024)
Wanderwitz: Der Fluch der ehrlichen Worte (14 Juli 2024)
Deutsche Demokratisierungen (14 Juli 2024)
Haseloff und Woidke gegen Volksabstimmung über Grundgesetz. (14 Juli 2024)
S. Mau spricht in diesem Zusammenhang von DDR als "Endlagerstätte" für alles, was schieflaufe.
Zu den Wirkungen der Transferzahlungen siehe auch Müller und Busch, 2005.
Heino Falcke, zitiert in Es ist Zeit, etwas Neues zu wagen, Henry Bernhard, 23.06.2021.
Matthias Sengewald, zitiert in Es ist Zeit, etwas Neues zu wagen, Henry Bernhard, 23.06.2021.